Archiv der Aufmerksamkeit

Zu Beginn meines Studiums zeichnete ich abends oft das, was ich tagsüber entdeckt und mir gedanklich eingeprägt hatte. Ich vergegenwärtigte mir die Momente, Szenen und Ereignisse. Anschließend hielt ich sie in Zeichnungen fest. Das Zeichnen aus der erinnernden Distanz stellte sich als Vorteil heraus: Es klärte das Wahrgenommene, half bei der Unterscheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen und reduzierte seine Komplexität. Über dieses Vorgehen lernte ich meine Aufmerksamkeit kennen. Ich entwickelte ein Gefühl für das, was mich im Alltag neugierig machte. Erst später übersetze ich die Zeichnungen in Farbe. Dieser zweite Schritt ermöglichte mir eine weitere Ebene des Mich-in-Beziehung-Setzens zum Wahrgenommenen. Durch die im Zeichnen geklärten Formen konnte ich mich über die Farben leichter auf die erinnerte Atmosphäre einlassen. Allerdings blieb es nicht dabei. Was ich zeigen wollte, benötigte malerische Erfindungen. Der Pinsel glitt sinnlich über den Grund.

Hängte ich die Bilder an die Wand, entstanden in der Gegenüberstellung Narrationen. Die gleichzeitige Sichtbarkeit der einzelnen Erfahrungsmomente erzählte nicht nur von der Struktur meiner Aufmerksamkeit, sondern auch von meinem Begehren, meiner Freude und mancher Schwere.

Die Fotografien entstehen ähnlich, im Detail jedoch anders: Mit meinem Handy halte ich die Momente fest, die mich staunen lassen. Ich gehe nicht gezielt fotografieren, sondern nehme mit der Kamera auf, was mich aufmerken lässt. Um die jeweiligen Situationen zu dokumentieren, mache ich oft mehrere Bilder, verändere meinen Standpunkt, taste die Szene ab, um später das stimmigste Bild auswählen zu können. Seit einigen Jahren entsteht so ein kleines Archiv meiner Aufmerksamkeit.

Tobias Loemke, Juni 2020

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