FAQs

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  • 1. Was ist eine Vignette?

    Was die Forschenden anspricht, verwundert, irritiert, kurz: affiziert, wird in Erfahrungsprotokollen festgehalten und dann prägnant zu einer Vignette, einer erfahrungsträchtigen Narration, verdichtet. Die Erzählung beschreibt die Erfahrung in statu nascendi und in medias res – inmitten der Dinge – möglichst nah am Vollzug der gelebten Erfahrung. Sie möchte bei Lesenden die Erfahrung (neu) erfahrbar machen. Inhalt der Vignetten sind somit erfahrungsträchtige Momente und Situationen, von denen die Forschenden im Feld (z. B. Schule, Krankenhaus, öffentliche Plätze) angesprochen, also affiziert werden. In den Vignetten wird auf Deutungen möglichst verzichtet und dafür besonderer Wert auf die Beschreibung (der Situation, der Interaktionen und der leiblichen Äußerungen wie Mimik, Gesten oder Tonfall des Gesprochenen) gelegt.
    Die Arbeit mit Vignetten ist auch eine Schulung der Wahrnehmung der Situationen, in denen wir uns befinden. Durch die Lektüre der Vignetten (vgl. Frage 10) kann die wahrgenommene und miterfahrene jeweilige Situation vielperspektivisch reflektiert werden, wodurch erweiterte Einsichten in Lehr-/Lerngeschehen, soziale Interaktionen, Strukturierungen des Handelns, Machtbeziehungen und anderes mehr gewonnen werden können. Dadurch eignet sich die Vignette auch als Professionalisierungsinstrument für Berufe im pädagogischen und darüber hinaus in jedem interaktionalen Bereich.

  • 2. Was ist eine Anekdote?

    Anekdoten als Forschungsinstrument im Verständnis der phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung sind merk-würdige Geschichten. Autor*innen formen Erzähltes und Erinnertes zu einer pointierten, kurzen Narration. Ähnlich wie bei Vignetten bestimmt die Forschungshaltung der Miterfahrung die Gespräche, indem Forschende als Dialogpartner*innen – in medias res, inmitten des Geschehens – auf das Erzählte respondieren bzw. das Erinnern prägender Erfahrungsmomente und Situationen anregen. Leibliche Äußerungen der Interviewten wie Mimik, Gesten, das Stocken oder Schnellerwerden der Sprache werden mitnotiert und gegebenenfalls in die Anekdote aufgenommen. Der wichtigste Unterschied zu Vignetten liegt darin, dass beim Schreiben von Anekdoten die Miterfahrung in Gesprächen zu erinnerten Momenten und die Audioaufnahmen und Transkripte dieser Gespräche die Datenbasis bilden, während Vignetten aus Erfahrungsprotokollen von wahrgenommenen Situationen im Hier und Jetzt entstehen.

  • 3. Was ist (in einem phänomenologischen Verständnis) eine Erfahrung?

    Die Phänomenologie analysiert, was es bedeutet, eine Erfahrung zu machen und wie unsere Erfahrung von etwas zustande kommt. Erfahrungen werden nach dem deutschen Phänomenologen Bernhard Waldenfels in ihrer Grundstruktur als Pathos-Response-Geschehen gefasst, d. h. jegliche Erfahrung geht von einem fremden Anspruch aus, auf den geantwortet werden muss. Damit sind diese Ansprüche durch eine elementare Form der Unausweichlichkeit charakterisiert. Da Erleben, Handeln und Denken nicht beim Subjekt, sondern anderswo beginnen und deswegen stets Züge einer fremden Eingebung in sich tragen, werden Menschen zu Adressat*innen der Ereignisse. Die Erfahrung widerfährt jemandem bzw. stößt zu. Das Ereignis der Erfahrung entzieht sich dem Subjekt, dieses greift in seiner Antwort den Anspruch lediglich auf und vollbringt, was sich an ihm vollzieht. Damit zeichnen sich Erfahrungen durch ihren Widerfahrnischarakter aus, sie durchkreuzen menschliche Erwartungen. In phänomenologischen Konzeptionen wird vor allem dieser zustoßende, störende, unausweichliche, schmerzhafte, nicht selten jedoch fruchtbare Charakter von Widerfahrnissen betont, in welchen Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsgewohnheiten aufs Spiel gesetzt werden. Indem Erwartungen durchkreuzt und Gewohnheiten außer Kraft gesetzt werden, liegt in ebendiesen Widerfahrnissen die Fruchtbarkeit für Lernprozesse begründet.

  • 4. Welche Bedeutung haben leibliche, zeitliche, räumliche und relationale Dimensionen von Erfahrungen in Vignetten und Anekdoten?

    Die Erfahrung der*des Anderen ist keine originäre Erfahrung, aber wir sehen der*dem Anderen seine*ihre Erfahrung in äußerlichen Artikulationen an. Wir können in Schmerzartikulationen – ein verzerrtes Gesicht, Stöhnen, eine gequälte Haltung – Schmerzerfahrungen miterfahren, aber den Schmerz der*des Anderen empfinden wir nicht. Leib, Raum, Zeit und Relation sind Grunddimensionen menschlichen Seins; demzufolge artikulieren sich Erfahrungen immer leib(körper-)lich, in einer gefühlten Zeit, in Räumen und Beziehungsgefügen zu Anderen und Dingen. Als leibliche Wesen können wir beispielsweise ohne unseren Mund nichts sagen, ohne unsere Haut nichts fühlen, ohne unser Auge nichts beobachten, ohne die Hand nichts ergreifen oder berühren, ohne das Ohr nichts hören. Zugleich sind Sprechen, Atmen oder Küssen mit dem Mund nie nur körperlich, sondern übersteigen das rein Physische in das hinein, was mit leiblich gemeint ist. Erfahrung drückt sich in unserer Wahrnehmung leiblich aus – in Gestik, Mimik, Stimme oder Tonalität– sie ereignet sich in bestimmen Zeitverhältnissen, wobei Gegenwärtiges, Vergangenes und Zukünftiges ineinandergreifen. Erfahrung ereignet sich in bestimmten Räumen, tatsächlichen wie imaginierten, und in relationalen Bezügen aller Beteiligten entsteht ein Geflecht, ein Drittes, etwas Neues.

  • 5. Was ist ein Phänomen?

    Ein Phänomen ist in der grundlegenden Wortbedeutung schlicht etwas, das sich beobachten oder wahrnehmen lässt, eine bemerkenswerte Erscheinung, Vorkommnisse stellen (rätselhafte) Phänomene für uns dar. In der Philosophie wird mit dem Begriff das bezeichnet, was sich den Sinnen zeigt und als neue Erkenntnis oder als neuer Bewusstseinsinhalt darbietet. In der griechischen Grundierung des Begriffs bedeutet Phänomen einerseits das Offenbare, das, was sich selbst zeigt, andererseits das Scheinende. Seiendes kann sich auf ganz unterschiedliche Weise zeigen, abhängig davon, welche Zugangsart gewählt wird. Phänomenologie ist in diesem Sinne der Versuch, die Erscheinungen und den Schein der Dinge, der Zusammenhänge, der Situationen in ihrer Vielfältigkeit und Vieldeutigkeit wahrzunehmen und zu beschreiben. Mit der Begründung der Phänomenologie im 20. Jahrhundert und seinem Aufruf Zurück zu den Sachen selbst! wandte sich Edmund Husserl gegen einen überzogenen Rationalismus wie auch gegen Formen des Empirismus und Naturalismus. Gemeint ist die Hinwendung zu den Dingen in der Weise, wie sie sich uns zeigen, wenn wir uns denkend, fantasierend, begehrend … auf sie beziehen, da wir zum wahren Sein der Dinge keinen unmittelbaren Zugang finden. Die Art und Weise, wie ein Gegenstand erscheint, wird durch die Weise der Bezugnahme, den Blickwinkel, die Nähe und Ferne, die Modalität usw. bestimmt. Diese Wende, die damit auch die Erfahrung als Zugang zur Welt und zu uns selbst aufwertet, leitete eine neue, konkrete Auseinandersetzung mit den Phänomenen unserer Lebenswelt ein, wie Menschen sie erfahren, anstatt sich mit entrückten Debatten über das Sein der Dinge aufzuhalten.

  • 6. Was ist Phänomenologie?

    Phänomenologie als Philosophie der Erfahrung ist – wie die Instrumente der Vignetten- und Anekdotenforschung – eine Schule der Wahrnehmung, die immer neues Hinschauen, Hinhören und Hinfühlen verlangt, um immer neue Aspekte und Erscheinungsweisen von etwas zu erkennen. Damit entzieht sich die phänomenologische Forschung dem Anspruch propositionaler Wissenschaften, die Wirklichkeit möglichst eindeutig zu definieren und zu messen, und bekennt sich zu einer Wahrnehmung von Uneindeutigkeiten, Vielseitigkeiten, Unschärfen im Sinne jenes Überschusses, dass die Dinge, Situationen und konkreten Personen immer mehr und ander(e)s sind, als sie uns scheinen. Eine Farbe wie Rot wird dann nicht auf ihre chemischen Mischungen hin untersucht, sondern in ihren vielen Bedeutungen für unser Leben ausgefaltet, von der Symbolfarbe für Liebe bis zu jener für Gefahr, von der sanften Tönung bis zum knallenden Farbenschrei, von der romantisierten Rose bis zur Farbe eines italienischen Rennautos.

  • 7. Was verstehen wir unter Miterfahrung als bestimmende Forschungshaltung bei der Vignetten- und Anekdotenforschung?

    Das Wesen oder das wahre Sein einer Sache, aber ebenso auch von Situationen ist aus phänomenologischer Sicht nicht wahrnehmbar; stattdessen konzentriert sich die Phänomenologie auf die Vielfalt ihrer Erscheinungen in unserer Wahrnehmung, sofern wir diese für die Vielfalt der Erscheinungen auch wirklich öffnen. Dies erfordert ein – zumindest vorübergehendes – Zurückstellen unserer oft schon sicheren Annahmen darüber, wie die Dinge sind. Edmund Husserl nannte dieses temporäre Suspendieren (oder Einklammern) von Vorerfahrungen, Vor-Urteilen oder Vorverständnissen die Epoché.
    Wir haben keinen direkten Zugang zu den Erfahrungen anderer, können diese jedoch, indem wir eine Situation teilen und mit-affiziert sind, miterfahren. Aus der Zuwendung mit unseren Sinnen und der Öffnung für die Miterfahrung von Erfahrungen entsteht eine Sensibilität für Anderes oder Fremdes. Die Wahrnehmung von Erfahrungen (aus Bildungskontexten) in der Mit-Erfahrung erfordert eine leibliche Aufmerksamkeit, die alle Sinne einbezieht. Dies meint, wir sehen, hören, fühlen uns in etwas hinein, um uns dann darüber auszutauschen und zu erzählen bzw. um uns zu erinnern. Dies meint aber eben nicht, dass wir feststellen möchten, wie etwas ist, sondern wie uns etwas als etwas erscheint, als irritierend, beglückend, verunsichernd, prägnant, bedeutungslos, neugierig machend.

  • 8. Wie verfasse ich eine Vignette?

    Die in der sinnlich präsenten Anwesenheit der Forschenden im Feld erstellten Erfahrungsprotokolle sind Ausgangspunkt für Vignetten. Die Vignetten führen durch einen unmittelbaren Einstieg (in medias res) mitten in das szenische Geschehen hinein und geben nur diejenigen Kontextinformationen wieder, die für das Verstehen der Vignette notwendig sind. Beschrieben wird möglichst nur, was wahrnehmbar ist. Direkte Rede, eine Pointe, ein offener Schluss sind Stilmittel der Vignette, die Raum für unterschiedliche Deutungen und mehrperspektivische Reflexionen der beschriebenen Handlung bieten. Vignettenschreibende stehen vor der Herausforderung, das Sprechen des Leibes, aber auch zeitliche, räumliche und relationale Erscheinungsweisen von Erfahrungen in Worte zu übersetzen. Gesten und Gebärden, Mimik oder Stimmvolumen sind leibliche Artikulationen von Erfahrung, die zunächst nur festgehalten und beschrieben werden, um sie nicht vorschnell zu analysieren, zu abstrahieren, zu operationalisieren oder zu interpretieren. Sorgfältig gewählte Verben, Adjektive, Adverbien oder Nomen für die Wahrnehmungen oder Erfahrungen stellen dafür sprachliche Mittel da. Wichtig ist nicht nur, was gesagt wird, sondern in welcher Tonlage, mit welchen Worten etwas gesagt, welchen Handlungen es folgt und von welchen Gesten es begleitet wird. Mit leiblicher Erfahrung ist die Vorstellung verbunden, dass Körper und Geist, um das übliche in zwei Teile gespaltene Menschenbild zu zitieren, sich im Leiblichen gemeinsam ausdrücken, dass der Arm mit der Geste etwas ausdrückt, was das Körperliche übersteigt und mit Befindlichkeiten, Ansprüchen, Zurückhaltungen im Verhalten zur Welt und zum Leben hin zu tun hat. Syntaktische Verkürzungen, Alliteration, Wiederholung, Metapher oder Vergleich sind weitere sprachliche Mittel um die wahrgenommene, miterfahrene Erfahrung prägnant zu verdichten. In der phänomenologischen Grundannahme tragen Dinge und Situationen einen Bedeutungsüberschuss in sich, sind also nie eindeutig, sondern vieldeutig und können unterschiedlich verstanden werden. Ein gelungener Vignettentext trägt durch den Verzicht auf Interpretationen, durch seine trächtige Dichte und die vieles offenhaltende Verknappung ebenfalls einen Bedeutungsüberschuss in sich, der in der nachfolgenden Lektüre ausdifferenzierte Hindeutungen auf die in der Vignette wahrgenommenen Phänomene erlaubt.
    Die ersten Entwürfe der Verschriftlichung dieser Protokolle werden noch Rohvignetten genannt, da sie – auf dem Weg zur Vignette – noch Überprüfungsschritten und einer verdichtenden Feinarbeit unterzogen werden. In Gesprächen mit Forschungspartner*innen oder einer ausgewählten Diskursgemeinschaft werden die Vignetten gelesen und kommentiert, es werden Fragen zu bestimmten Formulierungen oder Beschreibungen gestellt, die im Sinne einer kommunikativen Validierung für die Endfassung berücksichtigt werden, sofern es für die oder den Forschenden überzeugend ist. Für die Verdichtung sind sowohl Forschungsteams wie auch rekursive Schreibprozesse fruchtbar.

  • 9. Wie verfasse ich eine Anekdote?

    Forschungsgespräche – auch Interviews oder Stegreifgespräche – bilden die (Daten-)Grundlage für Anekdoten. Die Gespräche werden in einer miterfahrenden Haltung geführt und möglichst nah am Gesprochenen transkribiert. Ebenso werden leibliche Äußerungen der Gesprächspartner*innen festgehalten. In der Bearbeitung der Interviews lassen sich die Forscher*innen von den erinnerten Erfahrungen affizieren und verdichten für sie besonders merk-würdige Gesprächsmomente zu einer knappen Erzählung. Sie achten dabei in der Regel darauf, den erzählenden Text entlang jener Eckpunkte zu verfassen, wie sie für Anekdoten üblich sind: eine Erfahrung, ein Thema, ein Fokus, eine Pointe. Mitunter beginnen Anekdoten, der Gesprächssituation geschuldet, mit einer Frage, die Anlass für die Erinnerung und Erzählung ist. Wie bei der Vignette werden leibliche, zeitliche, räumliche und relationale Erscheinungsweisen berücksichtigt. Die sprachlichen Verfahren und Stilmittel sind ähnlich wie bei der Vignette: Wichtig ist nicht nur, was gesagt wird, sondern auch wie es gesagt wird und in der Folge beschrieben werden kann, es wird auf Mimik, Gestik und Sprechweise achtgegeben und versucht, diese durch das Ringen um passende Verben, Adjektive und Adverbien möglichst nah an der Miterfahrung zu beschreiben.
    Die Weiterbearbeitung der (Roh-)Anekdote wird, wie bei der Vignette, in Forschungsteams und in rekursiven Schreibprozessen vorgenommen, durch Überprüfung, weitere Verdichtung, Herausarbeitung der Pointe und/oder auch Offenlassen des Merk-würdigen. Das Erzählte wird auf jene Ereignisse verdichtet, von denen die Forschenden affiziert wurden und die sich als eigentümlich, erfreulich, verstörend, eben merk-würdig eingeprägt oder neugierig gemacht haben.

  • 10. Wie deute ich die in Vignetten und Anekdoten verdichteten Erfahrungen in Form von so genannten Lektüren?

    Die Lektüre von Vignetten und Anekdoten erfordert das Sich-Einlassen auf die sich darin zeigenden Artikulationen von Erfahrungen. In kleinen Gruppen werden zum Beispiel Vignetten zunächst schlicht gelesen oder auch nur laut vorgelesen, um vorerst Raum für die unmittelbare sinnliche Resonanz und dann für Rückmeldungen, Fragen und Hindeutungen zu geben. Momente des Überraschenden, Irritierenden, Eigentümlichen bewirken im intuitiven Nachvollzug eine Resonanz, die neue Einsichten eröffnet. Über die Rezeption der aus der Wahrnehmungsmannigfaltigkeit (Husserl) verdichteten Erfahrungen werden in der Lektüre Bedeutungsschichten enthüllt, die auf etwas Neues, etwas Anderes oder Fremdes hinweisen. Durch die Lektüre werden so auch den Autor*innen der Vignetten oder Anekdoten neue Bedeutungsebenen zugänglich, die beim Schreiben oder bei vorangegangenen Lektüren noch gar nicht zugänglich waren. Die miterfahrene Wirklichkeit kann neu betrachtet werden. Im pädagogischen Kontext können festgefahrene Vorstellungen von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen, alten Menschen für neue Sichtweisen geöffnet werden, die neue Handlungsperspektiven eröffnen. Für die Lektüre in Gruppen – oder auch alleine – sind folgende Leitfragen empfehlenswert: Was drückt sich in der Erfahrungssituation aus? Was verkörpert sich in dieser? Was drängt sich mir als Leser*in auf? Was bleibt in der beschriebenen Szene ausgespart? Woher kenne ich das? Was irritiert mich, und was kann dieses Irritierende mit meinen Vorerfahrungen, mit meinem Vorwissen zu tun haben? Der sich in der Vignette zeigende Überschuss ermöglicht unterschiedliche Lesarten, über die sich Lektüren multiperspektivisch ausdifferenzieren lassen, um unterschiedliche Facetten und Nuancierungen in den (Forschungs-)Blick zu nehmen; jedenfalls werden theoretische Verortungen in der Lektüre expliziert, um ihre thematische Verortung offenzulegen. Eine weitere Ebene, Vignetten zu lesen, ist ihre Umsetzung in szenische Lektüren: Mikromomente der Handlung können, nach vereinfachten Methoden des Forumtheaters, nachgespielt werden, um die unterschiedlichen Bedeutungsmöglichkeiten ein und derselben Handlung auch leiblich nachzuvollziehen und in der Folge erweiterte Handlungsoptionen zu erproben.
    In der Anekdote wird dies zum Beispiel zu fassen versucht, um an den erinnerten Erfahrungen und dem beschriebenen Ereignis Zusammenhänge zu verstehen, die über das einzelne Ereignis, die einzelne Erfahrung hinausweisen. Durch die retroaktive Vergegenwärtigung des Vergangenen wird diese Erfahrung neu zugänglich. Deshalb eignet sich die Anekdotenforschung in besonderer Weise für das Reflektieren von (lern)biographischen Erfahrungen und/oder Bildungsverläufen und für die Reflexion lebensweltlicher, schulischer, struktureller, sozialer, relationaler Einflüsse auf Lebens- und Bildungswege.

  • 11. Inwiefern lassen sich durch Anekdoten und Vignetten und deren Lektüre gewonnene Erkenntnisse verallgemeinern?

    Während repräsentative Befragungen standardisierte Vergleichswerte und eine bestimmte, zufällig ausgewählte Personenanzahl benötigen, um verallgemeinerbare Aussagen zu erhalten, vergegenwärtigen Vignetten und Anekdoten einzigartige Erfahrungsmomente in ihrer nachvollziehbaren Mehrdeutigkeit, Lebendigkeit und Gründlichkeit. Sie setzen auf das Exemplarische, das Beispiel. Schon nach Aristoteles zeigt sich am beispielhaften Einzelereignis immer auch das Allgemeine. Als Beispiele – als exemplarische Deskriptionen von Wahrgenommenem – haben sowohl Vignetten als auch Anekdoten den Anspruch, einen allgemeinen Sinn in der besonderen und konkreten Situation aufleuchten zu lassen, sodass aus Vignetten bzw. Anekdoten auch für andere Erfahrungssituationen etwas gelernt werden kann. So kann ein kleines (unscheinbares) Ereignis für Menschen eine große Bedeutung haben. Deren Nachvollziehbarkeit liegt in der Prägnanz der Darstellung und schafft eine eindrucksvolle Erkenntnis, die über die Einzelerfahrung hinauswirkt. Phänomene, die sich als Erfahrung leiblich zeigen, (kor-)respondieren oft auch mit anderen Erfahrungen und zeigen sich als solche auch bei anderen Personen. Vignetten und Anekdoten sind wirkmächtige Forschungsinstrumente, um der sozusagen noch stummen Erfahrung zum Ausdruck zu verhelfen (Husserl). So entwickeln sie eine Basis von erfahrungsbezogenen Daten, die den vielfältigen Ausformungen menschlicher Erfahrungen näherkommen. In der Fülle und Reichhaltigkeit der beispielhaft in Vignetten und Anekdoten beschriebenen Erfahrungen liegt ein Reichtum, ein Bedeutungsüberschuss, der vielfältige Lektürezugänge ermöglicht. Im Sinne eines Antwortregisters (Waldenfels) erlauben sie nahezu unerschöpfliche phänomenspezifische und pluri-perspektivische Zugriffe und verweisen in ihrer Vielfalt auf Weiterführendes.

  • 12. Was sind Kernfragen für Forschungsprojekte im Paradigma der phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung?
    1. Wie lässt sich der Forschungsgegenstand, der im Kerninteresse des Projektes steht, als Phänomen benennen?
    2. Wie lässt sich das Phänomen in seinen vielfältigen Zusammenhängen und Erscheinungsweisen möglichst vieldeutig wahrnehmen?
    3. Wie lassen sich die Wahrnehmungen des Phänomens beschreiben?
    4. Was lässt sich aus diesen Beschreibungen über den Gegenstand lernen, was vorher nicht, anders, enger oder diffuser wahrgenommen wurde, was hat sich an der Wahrnehmung verändert?
    5. Wie können miterfahrene und/oder erinnerte Erfahrungen im Zusammenhang oder Umgang mit dem Phänomen für einen Erkenntnisgewinn genutzt werden?
    6. Was lässt sich an den miterfahrenen und/oder erinnerten Erfahrungen lernen, wie können diese neu und anders erfahren werden?
    7. Was ist das Wesen der beschriebenen Lern-, Lehr- oder Leitungserfahrungen?
    8. Was widerfährt Menschen hier?
    9. Welche Ansprüche stellen sich dadurch?
    10. Wie antworten Menschen auf so entstehende Ansprüche? (Response)
    11. Was ist für dich/Sie eine prägende Erinnerung, was eine wichtige Erfahrung?
      1. … eine merk-würdige, eine, die es wert ist, nicht vergessen zu werden?
      2. Worum handelt es sich dabei? Was ist wo, wie, wem … geschehen? Wer hat was, wie … gesagt, getan, gedacht?
      3. Welches einprägsame Bild taucht auf? Welche Worte, Sätze, Metaphern, Bilder … helfen dir/Ihnen, diese Erinnerung am wirksamsten (nach)zuerzählen?
    12. Was sticht ins Auge? Was affiziert? Was erregt meine Aufmerksamkeit beim Zuhören?

 

 

Bilder: © Tobias Loemke »Schimmerndes Gitter« (2016), »Leuchtendes Etwas« (2016), »Angedeuteter Bogen« (2016), »Verblautes« (2018)