Vignetten- und Anekdotensammlung

Im Schuljahr 2008/2009 startete österreichweit der Schulversuch Neue Mittelschule (NMS), welcher mit dem Ziel verbunden war, vermehrte Chancengerechtigkeit für alle Schüler*innen zu gewährleisten. Mit dieser bildungspolitischen Steuerung einhergehend wurde in zwei vom FWF geförderten Projekten im Schuljahr 2009/2010 und in einer Folgestudie im Schuljahr 2012/2013 das Lernen von Schüler*innen in 24 NMS in allen neun Bundesländern in Österreich untersucht. Um das Lernen in heterogenen Lerngruppen zu beforschen, musste ein eigenes Forschungsinstrument entwickelt werden: So wurden die in einem mehrperspektivischen Design erhobenen Daten zu prägnanten Erzählungen schulischer Erfahrungsmomente, den phänomenologisch orientierten Vignetten und Anekdoten verdichtet.

Die daraus entwickelte phänomenologisch orientierte Unterrichtsforschung versucht, in Form von Vignetten Lernerfahrungen in ihrem Vollzug mitzuerfahren bzw. anhand von Anekdoten Momente des Lernens aus erinnerter Perspektive für die Reflexion zugänglich zu machen. Entgegen jenen Untersuchungen zum Lernen, die auf das Ergebnis und nicht auf den Prozess und dessen Entstehung fokussieren, wird bei einer phänomenologisch-pädagogischen Betrachtungsweise der Blick darauf gerichtet, wie gelernt wird, d. h. welchen sinngebenden Irritationen die Lernenden auf dem Weg des Erfahrens ausgesetzt sind. So ereignet sich ein Lernen, verstanden als Erfahrung, immer dann, wenn die Übereinstimmung zwischen den eigenen Erwartungen und den Vollzügen nicht mehr gegeben ist und die alten Erfahrungen nicht länger ‚tragen‘.

 
Vignetten als Möglichkeit, miterfahrene Momente (außer-)schulischen Lernens neu erfahrbar zu machen

Die Forschenden im Feld lassen sich in der Vignettenarbeit von dem ansprechen, was sich im (Schul-)Alltag als sinnlich Wahrnehmbares und intersubjektiv Erfahrbares vollzieht. Die Aufmerksamkeit gilt insbesondere leiblichen Äußerungen, ist also nicht allein auf verbalen Ausdruck und kognitive Leistung fokussiert, sondern versucht, offen zu sein für nicht-propositionale Erfahrungsformen wie Bewegungen, Gesten, Blicke, Interaktionen, Stimmungen und Atmosphären, die sich in Mimik, Gestik, Tonalität, Rhythmik und Körperhaltung abzeichnen. Auf diese Weise entstehen Erfahrungsprotokolle, die zu Vignetten als exemplarische Momentaufnahmen von (außer-)schulischem Geschehen narrativ verdichtet und mit den Beteiligten im Feld und in der Forschungsgruppe intersubjektiv validiert werden.

Die Wahrnehmungen und Erfahrungen in Vignetten zeichnen sich dabei durch prägnante Unbestimmtheit aus und lassen sich nicht auf eindeutige Begriffe oder Ausdrücke festlegen. Da Begriffe lebensweltlichen Erfahrungen entspringen, bleiben letztlich auch sie bedeutungsträchtig. So erfahren und wissen wir stets unerschöpflich mehr, als sich denken und sagen lässt. Die Kunst des Vignettenschreibens besteht deshalb darin, den sinnlichen Aspekt der Dinge auszudrücken und die intersubjektiven Erfahrungsmomente im Feld so zu verdichten, dass diese Erfahrungen für Lesende neu erfahrbar werden.

Vignetten als verdichtete Wahrnehmungen von Lernerfahrungen werden u. a. im Rahmen von Schulbesuchen eingesetzt. Forschende erfahren den Schulalltag mit den Schüler*innen sowie der Lehrperson und Schulleitung mit, protokollieren Erfahrungsdaten und erfassen Vignetten, die den Schulen – beispielsweise als Datenbasis für die Schulentwicklung – zur Verfügung gestellt werden. So können Schulleiter*innen sowie Kollegien Einblicke in die Erfahrungen Einzelner bekommen, die Facetten des Lernens, die an ihrem Schulstandort begünstigt werden, identifizieren und Ist-Soll-Bilder kritisch reflektieren, die für die standortspezifische Schul- und Praxisentwicklung relevant sind. Vignetten können in kollegialen Hospitationen auch selbst verfasst und kritisch diskutiert werden.

Vignetten ermöglichen durch die pädagogisch-phänomenologisch orientierte Lektüre analog zur Mehrdeutigkeit der Wahrnehmung eine vielschichtige Deutung der Situation. Indem sie verschiedene Lesarten gezielt offenhalten, werden die in Bildungskontexten und Lebenswelten vollzogenen Erfahrungen in ihren Überschüssen oder irritierenden Entzügen offenbar. Anspruch ist es, über die Vignetten verschiedene intersubjektive Wahrnehmungs- und Erfahrungsmomente reflexiv zu fassen und im Hinblick auf die (weiterführende) pädagogische Praxis und Theorie zu deuten. Die damit an Vignetten zu gewinnenden wahrnehmungs- und erfahrungsgebundenen Einsichten werden somit nicht erschöpfend festgeschrieben, sondern die Erfahrungen in ihrem je eigenen Sinn, ihrer je spezifischen Bedeutung vergegenwärtigt und in ihrem Potenzial für weiterführende Analysen unter neuen Gesichtspunkten offengehalten.

Einige Beispiele, die von den Partner*innen an den unterschiedlichen Standorten verfasst wurden, finden sich rechts im Menü nach Bereichen geordnet.

 

Anekdoten als Möglichkeit, erinnerte Momente (außer-)schulischen Lernens erfahrbar zu machen

Anekdoten werden alltagssprachlich zumeist als kurze, oft auch mündliche, unterhaltsame Erzählungen über wahre Begebenheiten verstanden. In der Literatur zählt die Anekdote zu den einfachen epischen Formen, in der durch die pointierte Darstellung eines Ereignisses eine Person, eine soziale Schicht oder auch eine Epoche treffend charakterisiert wird (vgl. Gutzen et al., 1981; Krüger, 2005). Van Manen setzt die Anekdote im Zusammenhang mit Beobachtungen ein – in dieser Form sind sie der Vignette ähnlich – er weist aber darauf hin, dass auch persönliche Erfahrung und Interview Grundlagen für Anekdoten sein können (vgl. 1990, S. 69). Als Forschungsinstrument der phänomenologischen Vignetten- und Anekdotenforschung wird die Anekdote beschrieben als „eine merk-würdige Geschichte, in der Ereignisse mit besonderer Wirkkraft pointiert verdichtet werden, welche dem/der Forscher/in (von einem/einer Schüler/in) aus der erinnerten Erfahrung (ihrer Mittelschulzeit) erzählt werden“ (Rathgeb, Krenn & Schratz, 2017, S. 130). Das Anliegen der Anekdoten-Forscher*innen im vom FWF geförderten Projekt „Personale Bildungsprozesse in heterogenen Gruppen“ an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck war es, Lernvollzüge über längere Zeiträume zu untersuchen. Gespräche mit Schüler*innen über ihre vierjährige Schulzeit an österreichischen Mittelschulen bildeten die Grundlage der Anekdoten und stellen eine reichhaltige Quelle für Forschende dar, die sich auf Erinnerungsspuren des Lernens als Erfahrung begeben.

Beim Schreiben von Anekdoten geht es nicht um detailgetreues Abbilden, sondern um das Verdichten des Affizierenden, Verstörenden, Erstaunlichen oder Überraschenden von Gesprächsmomenten in einer Weise, dass die im Gespräch sich zeigenden Erfahrungen neu zum Klingen gebracht und für Lesende nachvollziehbar werden. Dies wird erreicht, indem nicht nur Aufnahme findet, was erzählt wird, sondern auch, wie etwas gesagt wird. Stammelt und stockt eine Schülerin beim Erzählen? Versagen ihr immer wieder die Worte oder sprudeln sie nur so heraus? Senkt der Gesprächspartner den Kopf oder wendet er den Blick ab? Forschende nehmen in Forschungsgesprächen eine miterfahrende Haltung ein, das Gespräch wird als Frage-Antwort-Geschehen verstanden. Dahinter steht die Annahme, dass diese Haltung uns einen Zugang zu Erfahrungen anderer eröffnet, der auf andere Weise nicht möglich wäre. Die in den Anekdoten geborgenen Erfahrungen sind als Exempel zu verstehen, in denen über das Einzelne hinaus Allgemeines aufleuchtet und neu erfahrbar wird. Das Auslegen der Texte geschieht in einer fragenden Haltung und in einem öffnenden Sinn: Wie bei der Vignette wird versucht, in der Lektüre der Anekdote der Vieldeutigkeit von Erfahrungen gerecht zu werden und diese nicht letztgültig festzulegen.

Literatur:

Gutzen, D., Oellers, N. & Petersen, J. H. (1981 [1976]). Einführung in die neuere deutsche Literaturwissenschaft (4. Aufl.). Berlin: Schmidt Verlag.

Krüger, H. (red. Leitung). (2005). Schülerduden Literatur. Ein Lexikon für den Deutschunterricht (4., neu bearb. Aufl.). Mannheim: Duden Verlag.

Rathgeb, G., Krenn, S. & Schratz, M. (2017). Erfahrungen zum Ausdruck verhelfen. In M. Ammann, T. Westfall-Greiter & M. Schratz (Hg.), Erfahrungen deuten – Deutungen erfahren. Experiential Vignettes and Anecdotes as Research, Evaluation and Mentoring Tool. Erfahrungsorientierte Bildungsforschung Bd. 3 (S. 95-106). Innsbruck, Wien, Bozen: Studienverlag.

Van Manen, M. (1990). Researching lived experience. Human science for an action sensitive pedagogy. Albany (NY): New York Press.

 

Bilder: © Tobias Loemke »Strahlendes Fenster«, »Rote Tüte«, »Reflektierendes Feld« (2015)